FUTURE BRAIN

Eigentlich wollte ich erst gar nicht zu den Aufführungen hingehen - „Das lohnt sich nicht“, sagte ich mir, „da kannst du auch was Sinnvolles machen. Du kennst da niemanden und was sollte dort schon aufgeführt werden? Modernes Theater versteht eh niemand.“ Eigentlich kenne ich ziemlich viele Menschen, auch aus der Ek und der Q1m. Und eigentlich mag ich auch modernes Theater, denn es fordert einen ja so herrlich dazu auf, über sich selbst, andere und eines Jeden Rolle in diesem großen Spiel „Leben“ zu grübeln und das alles mal zu hinterfragen.
Dann sah ich die ersten Plakate.

Beim Aufräumen der Aula nach den Sommerkonzerten huschten hier und dort ein paar Musikprofiler die Gänge entlang und klebten Plakate an Türen, Fenster und Wände. Neugierig wie ich nun einmal bin, musste ich natürlich sofort schauen, worum es sich hierbei handelte.

„FUTURE BRAIN“, stand dort in großen Buchstaben auf einem Matrix-ähnlichen Hintergund.

„Kommen Sie zu Future Brain und werden Sie zu einer KI, einer Künstlichen Intelligenz!“, hieß es weiter.

Da hatten sie mich. „Future Brain“ hörte sich irgendwie interessant an, der Spruch unten auf dem Plakat machte mich auch auf eine ganz eigene Art neugierig, da er so viel Raum zur Interpretation übrig ließ.
Ich beschloss also, an jenem Montag zu der Aufführung der Q1m zu gehen, um deren Stück zu sehen.

Zugegebenermaßen wusste ich gar nicht, dass es noch eine weitere Gruppe geben würde, die an dem Abend ihre Ergebnisse präsentieren würde und so saß ich dann doch etwas überrascht da, in der zweiten Reihe der Aula, mit der Kamera, die Frau Brachetti mir gegeben hatte, damit ich ein Video für die Gruppen machen konnte und fing schon wieder an, daran zu zweifeln, ob das wohl eine gute Idee war, hier den Abend zu verbringen.

Dann aber ging es los und mein neutraler Gesichtsausdruck wich immer mehr einem Lächeln, als ich von den Schülerinnern und Schülern der Ek von einer Pflegerin erzählt bekam, die eigentlich gar nicht pflegen wollte, weil es sich hierbei um eine dumme Strafe handelte. Oder von dem Trio, das im Schwimmbad sehr unterschiedliche Standpunkte zur gleichen Situation hatte. Oder von dem Lehrer, dem seine Schüler den Krieg erklärt hatten. Oder von dem rätselhaften Gespräch mit Gott in dem Koffer auf der Arche. Oder schlussendlich von dem Jungen mit dem Rock, der eigentlich gar kein Junge war, sondern John Lennon.

Mein Lächeln wurde immer größer, denn ich selbst konnte gar nicht fassen, wie genial die Schülerinnen und Schüler, die ich ja alle schon einmal irgendwo im Schulalltag gesehen hatte, ihre Figuren inszenierten und dem Publikum ihre Geschichte erzählten.
Und nachdenken musste ich. Vor allem musste ich über viele Szenen nachdenken. Weil noch im kleinsten Detail ein Stück des Schlüssels verborgen war, der mir helfen sollte, die Botschaft der Geschichte zu verstehen.

Nach diesen Vorstellungen einzelner Figuren sollte es nun aber zur Premiere des selbst entwickelten Stückes „Future Brain“ kommen. Mein Lächeln wich wieder einem neutralen Gesichtsausdruck, denn auf einmal verdunkelte sich die gesamte Aula. Als auch das letzte bisschen Licht verschwunden war, fing ein Beamer an zu flimmern und ein Film wurde abgespielt.

Dubai im Jahr 2077 war dort zu sehen und erzählt wurde von einer Wissenschaftlerin, die es vollbrachte eine höhere künstliche Intelligenz zu entwickeln und deren Idee Jahre später von zwei weiteren Wissenschaftlern aufgegriffen und vermarktet wurde.
Seitdem ließen sich immer mehr Menschen Gehirnchips implantieren, um Teil der allumfassenden KI „Future Brain“ zu werden, die alle Menschen zu Übermenschen machen sollte.

Dann ging endlich der Vorhang auf und Peter begann mit seiner Arbeit als simpler Straßenfeger – inmitten einer von Reichtum, Ansehen und Intelligenz besessenen Gesellschaft, in der er nie anerkannt und nie bedeutsam sein würde.
Schon gleich zu Beginn war ich beeindruckt von den Details, die sich in der Anfangsszene versteckten. Um Peter herum erwachte eine Stadt, die so viel an Geschehen bot, dass man gar nicht wusste, in welche Ecke der Aula man zuerst schauen sollte, denn überall passierten unheimlich vielen Dinge gleichzeitig und zeigten mir wieder einmal, wie sehr ich Städte eigentlich hasste.
So wie auch das hektische Treiben in der Stadt immer intensiver wurde, so wuchs auch meine Neugier darauf, was wohl dieser unscheinbare Straßenfeger zu all diesem Trubel zu sagen hätte – und in dem Moment, an dem die Spannung und meine Abscheu gegenüber dieses hektischen, chaotischen Treibens ihren Höhepunkt erreichten, da reichte es auch diesem Mann mit dem Besen, der all die Tage, die in der Stadt vergangen waren, so unscheinbar vor sich hin gefegt hatte, dass er fast gar nicht auffiel.
Sofort wurde mir diese Figur sympathisch.
Mit einer grandiosen Mimik und Gestik stand dort ein einfacher Straßenfeger, der genug davon hatte, ganz unten zu stehen.

Das war auch der Moment, in dem mir eine weitere Person auffiel, die aus der Reihe stach. Sie trug im Gegensatz zu den stumpfen, schwarzen Klamotten der übrigen Stadtbewohner ein buntes Kleid und schien sich über all die Hektik zu amüsieren, indem sie leicht den Kopf schüttelte.
Eine Rolle, die eigentlich ein bisschen über allen anderen stand, denn sie symbolisierte etwas, was mir erst sehr viel später klar werden sollte.

Im Laufe des Dramas ließen etwaige Tanzchoreographien und kreative Szenen in der Aula Zwischenapplaus toben. Die wunderbar eingebaute Musik verschaffte dieser Zukunftswelt zudem noch die passende düstere Atmosphäre.
So zeigte sich mir Future Brain von allen möglichen Seiten und ließ mich für gut 45 Minuten in einer Zukunft versinken, die ich mir definitiv nicht für die unsere Welt wünsche.

In Szenen, die zeigten, wie gleich und (eigentlich) emotionslos wir auch jetzt, in unserer Zeit, schon alle sind, flossen bei mir dann die ersten Tränen.
Zum einen vor Freude, weil diese Gruppe von Mitschülern es schaffte, diese Dystopie auf eine grandiose Weise zu inszenieren, zum Anderen, weil ich nicht fassen konnte, wie akkurat sich diese Metapher doch auf unsere Gesellschaft übertragen ließ.

Als dann am Ende gut zwanzig Wesen von der Bühne riefen: „Wir sind die Zukunft! Future Brain!“, wurde es in der Aula ganz still und dunkel. Ich hatte noch zu verarbeiten, was der Straßenfeger gefühlt haben musste oder was diese ominöse, aus der Regel fallende Figur eigentlich die ganze Zeit symbolisierte oder wie nah wir eigentlich an einer solchen Zukunft sind.

Dann wurde ich nach ein paar Sekunden von tosendem Applaus aus meinen Gedanken gerissen und war wieder angekommen in der normalen, richtigen Welt, in der ich zur Schule ging und alle Schauspieler oben auf der Bühne kannte – zumindest fast, denn ein Teil von mir blieb noch immer in dieser Welt, in der Leo nicht Leo, sondern Peter der Straßenfeger und Johanna nicht Johanna sondern eine Wissenschaftlerin, die der Menschheit eine KI verkaufte, waren.

Ich erinnerte mich an den letzten Satz des Videos vom Anfang - „Was wäre wenn?“
Ja genau!
Was wäre nur, wenn es wirklich dazu käme?
Meiner Meinung nach liefert „Future Brain“ die perfekte Antwort.

An diesem Abend hat mir die Q1m gezeigt, dass modernes Theater nicht unverständlich sein muss, sondern man nur nach den Teilen des Schlüssels Ausschau halten muss, der einem den wahren Inhalt der Erzählung zu offenbaren vermag.
Und sie haben mir gezeigt, wie großartig doch Theater an der Schule ist, wenn Menschen, die man aus seinem Schulalltag kennt, mit denen man so viel erlebt, solche wundervollen Dinge vollbringen.

So ging ich nach diesem Abend also nach Hause und hatte auf dem Weg reichlich Zeit, über das nachzudenken, was ich da eigentlich gerade erlebt hatte – und das war wohlgemerkt ziemlich viel.

Future Brain wird übrigens noch am Freitag um 10 Uhr aufgeführt werden.
Anmeldungen werden von den jeweilig zuständigen Lehrern im Lehrerzimmer eingetragen.
Es lohnt sich auf jeden Fall!

Felix M.

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